Es scheint so, wenn man sich ein wenig in Katalogen zum Werk von Henri Deparade verliert, dass seine Bilder zu heftiger, um nicht zu sagen: muskulöser Begriffsarbeit Anlass geben.Vielleicht ist es ja doch gut, erst einmal zusammenzutragen, was man sehen kann, was man nicht schon wissen muss. Was ja ganz unmittelbar auffällt, gleich beim ersten Blick auf diese Bilder, das ist dieses eigentümliche Gemisch aus Zeichnung und Malerei, so als ob Farbe und Linie nicht ganz übereinstimmten, nicht ganz so selbstverständlich miteinander harmonierten, wie wir das von figürlicher Malerei her gewohnt sind - und um figürliche Malerei handelt es sich ja ganz offensichtlich. Auch könnte man kaum einmal mit Bestimmtheit sagen, was an dieser oder jener Bildpartie zuerst da war, die Zeichnung oder die Malerei. An der einen Stelle sieht es aus, als sei die Farbe über die Zeichnung gelegt, an der anderen, als seien die Linien und Striche erst im zweiten Schritt dazu gekommen.
Zugleich scheint schwer bestimmbar, was weiter vorne, was weiter hinten ist. Die Bilder haben alle keine Oberfläche. Man blickt auf sie, wie man in einen gefüllten Raum blickt - dicht, gedrängt, schwer entwirrbar, undurchdringlich. Plötzlich entdeckt man ein Auge, Gesichtszüge, von denen man nicht sagen könnte, ob sie gerade erscheinen oder eher verschwinden. Es ist, als seien die Bildebenen wie transparente Folien übereinandergeschichtet, so dass es ganz aussichtslos scheint zu entscheiden, welcher Bildteil zu welcher Ebene gehört. Und vollends ausgeschlossen, den Spuren länger als ein Stück weit zu folgen. Man will sie halten und verliert sie gleich wieder. Man könnte auch an Schattenbilder denken oder an Projektionen einer unübersehbaren Anzahl von Bildquellen auf eine Leinwand hin. Auf hilfreiche Fluchtlinien, gar so etwas wie Zentralperspektive dürfen oder sollen wir offensichtlich nicht hoffen.
Simultan zeigen sich Figurenteile von vorn und von der Seite, treten zurück und spielen sich in den Vordergrund, verlieren sich mit einem Mal im Gewühl der Farbe und festigen sich im nächsten Augenblick schon wieder entlang ihrer Konturlinien. So bleibt alles in ziemlicher Bewegung, und wenn der Anschein nicht täuscht, auch in ziemlicher Erregung. Erregung, deren Herkunft uns noch nicht ganz klar ist. Jedenfalls sieht man diesen Bildern den Prozess ihrer Entstehung an, die Dynamik des Machens. Es müssen stürmische, aufgeladene Mal-Sessions gewesen sein, aus denen sie hervor gegangen sind. Und es ist sicherlich nicht verboten, wenn man das Gefühl hat, der Prozess sei noch nicht ganz abgeschlossen, womöglich gar nicht abschließbar.
Stille jedenfalls ist es nicht, was einem zu diesen Bildern einfällt. Wenn Bilder laut geben, Geräusche machen könnten, müsste es wie ein Geraschel vor ihnen sein, ein Getuschel, da und dort wäre ein Schrei zu hören, ein Zischen, ein Stöhnen. Es gibt nicht wenige offene Münder hier in der Runde an der Wand.
Man darf getrost auch einmal auf die Bildtitel schauen. Wenn Bilder „Orest“ heißen oder „Klytämnestras“, „Agamemnon und Kassandra“, Jason und Medea“, „Dionysos“ und Marsyas“, „Ödipus“ und „Narziss“, „Odysseus“ und „Penelope“, wenn sie sich „Gier“, „Konfrontation“ oder „Beziehung“ nennen, dann darf man ohne Risiko unterstellen, dass diesen Bildern in irgendeiner noch näher zu bestimmenden Form am Personal gelegen ist, das sie so vernehmlich im Schilde führen. Nun wollen wir den Nicht-Humanisten oder Post-Humanisten keinen Schreck einjagen. Der Maler erwartet von niemandem solide Kenntnisse in antiker Mythologie. Dass es ihm der antike Götter- und Heldenhimmel angetan hat, bedeutet nicht, dass uns ohne vitale Nähe zu den Olympiern seine Bilder verschlossen blieben. Denn der Maler Henri Deparade erzählt keine alten Stories. Er benutzt den antiken Mythos wie ein Reservoir, wie eine hoch geladene Batterie. Im Grunde ist es reine Energie, was von „Agamemnon“ und „Kassandra“, von „Isaos" und Medea“, „Dionysos“ und „Marsyas“, von „Odysseus“ und „Penelope“ herüber hallt. Es sind allesamt Namen, die für Grenzzustände stehen, für Extremsituationen, für das Theater der Grausamkeiten, das Leben heißt, also für die abgründigen, die bodenlosen Wahrheiten. Dass der Maler nicht immer, aber immer wieder und dann suggestiv den antiken Mythos aufruft, hat seinen Grund in dieser poetischen Bereitschaft zur Überschreitung, zur Entgrenzung der Norm. Es ist wie eine Verwandtschafts-bekundung.
Zeichnend, malend fährt der Künstler jenen Geschichten nach, die der junge Leser heute als „voll krass“ beschreiben würde. „Voll krass“ meint: Nackt liegt unter der dünnen Haut der Geschichte, was man existentielle Grundbefindlichkeit nennt, nackt liegt es da, das Leben, wie es ist, das Leben, das eben auch im Vorgriff der Phantasie, im utopischen Entwurf das unabänderliche, unveränderliche Leben bleibt. Theologie und Fortschrittsdenken haben sich mit der skeptischen Wahrheit des antiken Mythos nie wirklich anfreunden können.
Man hat ihn überliefert wie etwas Fremdes, Überwundenes, etwas Abgetanes, das an dunkel faszinierende Vorformen von Kultur und Zivilisation gemahnt. Aber gerade das, das Fremde, angeblich Überwundene, Abgetane, dunkel Faszinierende ist, was den Maler interessiert. Sie alle, die hochmütigen und verzweifelten Heldengötter und Götterhelden ruft er in der Andeutungstechnik seiner Malerei als Gewährsleute auf. Mit ihnen arrangiert er seine Figurenbilder und stellt seine Figuren-Cluster zusammen. Es gibt kein Ein-Figurenbild in dieser Ausstellung. Immer geht es um Konstellationen. Immer mäandert die Linie von einem Körper zum nächsten. Auch das scheint ein Signum dieser Malerei zu sein, wie sie ihr figurales Thema in einem Set fluktuierender Körperzeichen immer neu belebt. Mit Regie und Inszenierung hat das alles nicht viel zu tun. Es eignet dieser Malerei sehr viel Gewährenlassen. Die Linien fließen wie von selbst, und die Farben breiten sich wie Wolken aus. Es ist eben nicht so, dass der Maler für seine Orestie die Trilogie des Aischylos als Drehbuch benutzen würde.
Man würde diese Malerei verkennen, wenn man nicht sehen wollte, dass das Charakteristische gerade in der Freiheit des Assoziierens liegt, in den malerischen, zeichnerischen Schweif- und Streifzügen durch eine Welt, die immer mehr Bilder- als Wortwelt war. Nun darf einen dieses bildnerische Verweilen an der Zapfstelle des Mythos ja auch ein wenig erstaunen. Und um es besser verstehen zu können, mag es schon dienlich sein, doch auch ein paar Gedanken auf die Herkunft dieser Bilder zu richten.
Henri Deparade lebt in Dresden. Er ist in Halle geboren und hat in den siebziger Jahren an der Hochschule für Kunst und Design, an der berühmten „Burg Giebichenstein“ studiert. Damals gab es das noch, was es dann bald nicht mehr geben sollte, und was die Jüngeren unter uns schon gar nicht mehr kennen. Damals gab es noch die DDR. Und es gab die Kunst der DDR, ein ganz eigenes bildnerisches Biotop, das nichtzutreffend gewürdigt ist, wenn man es einfach unter „Ostkunst“ ablegt. Es ist jetzt nicht der Anlass, noch einmal an alte Formalismus-Debatten zu gemahnen und an die Kämpfe so mancher Künstler mit den Stildekreten der Partei. Aber eines scheint nicht zuletzt auch im Blick auf diese Bilder schon noch einmal erinnernswert: Ganz anders als die West-Moderne mit ihrem Selbstverständnis von Bruch und Neuerfindung hat sich ein Hauptstrang der DDR-Malerei doch immer noch der Tradition verpflichtet gefühlt, den figürlich-gegenständlichen Erzählformen, jenem - zumindest bei uns - fast marginalisierten Realismus, der dem Bild unbeirrbar Aussage und Botschaft zutrauen wollte. Man muss das erwähnen, um noch deutlicher zu sehen, wie entschieden sich der Maler von den Lerninhalten seiner Studienzeit emanzipiert und im intakten Vertrauen auf Stoffe und Themen eine ganz eigene Bildsprache entwickelt hat. In geradezu schroffem Gegensatz zu aller naiven Erzählfreudigkeit spielen diese Bilder mit dem Zitat und immer auch mit der Kenntlichmachung des Zitats. Nichts in diesem Werk ist direkt, geradlinig. So wie sich die szenischen Elemente der Bilder kaum einmal im Stillstand befinden, wie sie sich ununterbrochen zu verändern und zu verwandeln scheinen, so schwanken und schillern auch die Ausdrucksmittel, bedienen in einem Augenblick klassische Pathosformeln und verfremden sie im nächsten. Man begegnet immer wieder Expressions-Mustern wie Zorn, Schmerz, Schrei, Abwehr, Zuwendung, Entrückung, Verzückung, die gut identifizierbare bildnerische Vorlagen haben und sie auch keineswegs verheimlichen oder verstecken. Wer sich da und dort an antike Plastik, an manieristische Malerei, an Maskenstarre oder an die Figuren-Gebärden der Nazarener des 19. Jahrhunderts erinnert fühlt, befindet sich keineswegs auf falscher Fährte. Und doch ist das alles nur Spielmaterial für eine Malerei, die mit sichtlicher Lust zwischen Form und Formverlust, Gegenstand und Gestik, Figur und Farbraum, Körper und Emotion, Erinnern und Vergessen oszilliert und dabei lauter Geschichten ohne Anfang, ohne Ende gewinnt.
Hans-Joachim Müller, Januar 2015